Die künstliche Intelligenz und wir

  02.10.2025 Therwil

Der Ökonom Mathias Binswanger hielt am 23.9. einen Vortrag zum Thema Künstliche Intelligenz in der Aula des Schulhauses Känelmatt. Die Veranstaltung weckte grosses Interesse.

Texte, die sich selbst schreiben. Kühlschränke, die sich selbst füllen. Autos, die selbst fahren. An Beispielen für Künstliche Intelligenz (KI) herrscht kein Mangel. Auch nicht an Leuten, die sich dafür interessieren. Laut Marietta Bolis von der Gemeinde- und Schulbibliothek, die den Anlass organisierte, gingen 40 Karten im Vorverkauf weg und 20 weitere an der Abendkasse. Eine Umfrage zeigte die Vielfalt im Publikum. Eine Grossmutter war mit Kindern und Enkeln da: «Ich habe im Gegensatz zu ihnen keinen Computer, habe aber vom Vortrag gehört und will mehr über das Thema wissen.» Es waren auch jüngere Leute da, die ITmässig bestens informiert sind – und trotzdem nicht so richtig wissen, wie sie mit der KI umgehen sollen.

Verselbstständigter Kapitalismus
Darauf angesprochen, wo er selbst KI braucht, sagte Mathias Binswanger: «Sicher nicht dort, wo etwas persönlich und unverwechselbar sein soll. Ganz sicher nicht für Referate!» – Binswanger ist einer der renommiertesten und einflussreichsten Ökonomen an der Schnittstelle von Wissenschaft, Forschung und Politik. Er unterrichtet an der Fachhochschule in Olten und ist Privatdozent an der Universität St. Gallen. Ausserdem ist er regelmässig in verschiedenen Medien vertreten, wo er komplexe Zusammenhänge klar und verständlich rüberbringt – genau das, was man sich beim Thema «Die Verselbstständigung des Kapitalismus: Wie KI Menschen und Wirtschaft steuert und für mehr Bürokratie sorgt» wünscht.

St. Galler im Leimental
Gleich zu Beginn des Referats fragte Binswanger etwas, was viele andere St. Galler im Leimental auch fragen würden: «Ist es OK, wenn ich Hochdeutsch spreche?» – Als das Publikum nickte, fügte er hinzu: «Ich mache das, um meinen Dialekt zu verbergen. Nicht, dass hier noch Trudy-Gerster-Stimmung aufkommt.» Gelächter aus dem Publikum, dann Stille, als das Referat begann. Anhand des Beispiels einer Krankenversicherung, die Rabatte für Nutzerinnen einer Gesundheitsapp verspricht, führte er ins Thema ein. Es fängt harmlos an, kann aber ausufern – was, wenn die Menschen eines Tages verpflichtet werden, Gesundheitssensoren zu tragen? Die in Echtzeit Aufgebote für Arztbesuche oder Krankenhausaufenthalte rauslassen? Spätestens hier wurde klar: Auf die Spitze gedacht verbreitet KI keine Trudy-Gerster-, sondern George-Orwell-Stimmung.

Hightech-Salamitaktik
Das Perfide: Mit dem Rabatt beginnt ein schleichender Prozess des «Nudgings». Also eine Art von Hightech-Salamitaktik, die die Leute dazu bringen soll, immer mehr persönliche Daten zu liefern. Es ist die alte Krux der Digitalisierung: Vieles mag gratis sein – doch wir bezahlen mit unseren Daten. In einem Seitenhieb auf die heutige KI-Euphorie meinte Binswanger: «Wenn die Intelligenz nicht knapp wäre, müsste man sie auch nicht künstlich herstellen.» Er erwähnt die mittelalterlichen Alchemisten, die etwas ganz Wichtiges vergassen: Was wäre Gold wert, wenn die künstliche Herstellung klappen würde? Was wäre menschliche Intelligenz wert, falls KI eines Tages wirklich intelligent werden sollte?

Intelligenz ist relativ
«Ein Mensch muss drei Katzenbilder sehen und weiss, was eine Katze ist», so Binswanger. «Eine KI braucht dazu Millionen von Bildern.» KI ist eine Blackbox, von der niemand weiss, wie sie zu ihren Entscheidungen kommt. Es ist ein wenig wie mit der Kindererziehung: «Ist die Erziehung gut, steigt die Wahrscheinlichkeit von anständigem Verhalten.» Mehr nicht. Bei den Publikumsfragen nach dem Vortrag tauchte das Thema «e-ID» auf. «Auch hier gilt», so Binswanger: «Es beginnt harmlos, entwickelt sich aber schrittweise weiter – mit dem Argument der Bequemlichkeit.» Andere Leute sorgten sich um Mitmenschen, die bewusst «analog bleiben wollen». Wie kann ihnen geholfen werden? «Es muss gesetzlich garantiert werden, dass sie keine Nachteile erfahren», meinte Binswanger. Auf den negativen Eindruck angesprochen, den seine Ausführungen bei einem Zuhörer hinterlassen haben, stellte er klar: «Ich sehe das gar nicht so negativ. Aber es ist wichtig, auf die Gefahren hinzuweisen. Es liegt an uns, in welche Richtung sich unsere Demokratie entwickelt.»
Gregor Szyndler


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