Wenn der Vater mit dem Sohn
07.11.2024 TherwilHanspeter und Martin Siegenthaler-Hesse lesen in Therwil aus dem Briefwechsel zwischen Hermann Hesse und seinem Sohn Martin und geben dabei einen sehr persönlichen Einblick in ihre Familiengeschichte.
Der Schriftsteller und Nobelpreisträger Hermann Hesse (1877–1962) gilt als einer der einflussreichsten deutschsprachigen Literaten. Er lebte zeitweise in Basel und vor allem im Tessin. Aus seiner Ehe mit der Baslerin Mia Hesse-Bernoulli stammen drei Söhne. 1919 verliess Hesse seine Frau und die Kinder und zog ins Tessin. Sein jüngster Sohn, Martin Hesse, war Fotograf und schuf zahlreiche bekannte Bilder von seinem Vater. Zwischen den beiden bestand ein regelmässiger und intensiver Briefwechsel, der die Vertrautheit zwischen Hesse und seinem Sohn dokumentiert.
Die Nachfahren, Vater und Sohn Hanspeter und Martin Siegenthaler-Hesse, verwalten die Briefe und Fotografien von Martin Hesse. Aus diesen Briefen entstand auch ein Buch mit dem Titel «Mein lieber Brüdi», das im Frühjahr 2023 im Suhrkamp-Verlag erschienen ist. Am 14. November, um 14.30 Uhr, lesen sie daraus in der reformierten Kirche in Therwil. Wir trafen Vater und Sohn zum Gespräch.
BiBo: Herr Siegenthaler-Hesse, wie istes, Nachfahre von Hermann Hesse zu sein? Spüren Sie eine besondere Verantwortung oder Prägung?
Hanspeter Siegenthaler-Hesse (Vater): Ich spüre vor allem eine grosse Verantwortung, den Briefwechsel zwischen Hermann Hesse und seinem Sohn Martin für die Nachwelt zu erhalten. Das zu kuratieren war viel Arbeit, zumal ein Teil der Briefe in der sogenannten Kurrentschrift verfasst war.
Martin Siegenthaler-Hesse (Sohn): Mein Vater hat sogar einen speziellen Kurs besucht, um diese Schrift lesen zu können.
Hanspeter: Aber ob mich die Briefe geprägt haben? Ich bin vor allem beeindruckt von Hesses grosser Menschlichkeit, die nicht nur in seinem literarischen Werk, sondern auch in diesem Briefwechsel, aber auch in den vielen Tausenden anderen Briefen, die er geschrieben hat, zutage tritt. Und, ganz wichtig, Hesse hat diese Menschlichkeit auch gelebt. Hesse hat mich persönlich sehr geprägt.
Sie lesen aus dem Briefwechsel zwischen Hesse und seinem jüngsten Sohn. Übernehmen Sie dabei auch die Rollen von Vater und Sohn?
Martin: Ja, genau.
Hanspeter: Martin trägt ja auch den Namen seines Grossvaters. Meine Frau hat ihren Vater sehr geliebt. Er war ein liebevoller, grosszügiger Mensch.
Hesses Rolle als Vater ist umstritten, doch der Briefwechsel zeigt ein enges Verhältnis. Glauben Sie, dass Hesse hier missverstanden wurde?
Hanspeter: In der Geschichte über Hermann Hesse wurde viel Unwahres erzählt. Tatsache ist, er hat sich sein ganzes Leben lang liebevoll um alle seine drei Söhne und seine erste Frau Mia gekümmert. Die zwei erstgeborenen Söhne waren ihr ganzes Leben lang auf die finanzielle Unterstützung des Vaters angewiesen. Auch seine erste Frau Mia hat er bis zu ihrem Tod regelmässig finanziell unterstützt.
Er hat sie jedoch fremdplatziert, nachdem seine Ehe mit Mia Hesse-Bernoulli gescheitert war.
Hanspeter: Im Herbst 1918 hatte Mia einen schweren psychischen Zusammenbruch und musste rund zwei Jahre mit kurzen Unterbrüchen und Rückfällen in einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden. In der Folge musste Hesse seine drei Söhne in fremde Obhut geben. Er musste ja weiterarbeiten, Geld verdienen, um die Klinik, die Unterbringung seiner Kinder und sein eigenes Leben finanzieren zu können. Mia litt an einer bipolaren Störung, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte.
Martin: Mein Grossvater war ja auch Fotograf und hat die meisten bekannten Bilder von meinem Urgrossvater gemacht.
Hanspeter: Diese Fotografien sind Teil unseres Nachlasses, und wir tragen die Verantwortung, sie für die Nachwelt zu bewahren.
Wenn Sie die Rollen einnehmen, sind Sie dann Interpreten von Hesses Werk oder auch Vater und Sohn?
Hanspeter: Das können wir nicht wirklich trennen.
Martin: Wir sind natürlich nicht Hermann und Martin, aber ich merke schon, dass ich manchmal Züge meines Grossvaters habe – ein gewisses Temperament habe ich sicher geerbt.
Ist es eine besondere Verantwortung, als Nachfahren mit Hesse aufzutreten? Gibt es eine Distanz zum Werk?
Hanspeter: Wir haben eine gewisse Verantwortung, den Menschen Hesse näherzubringen und dabei mit gewissen Vorurteilen aufzuräumen. Wir würden auch keine Lesungen aus diesem Briefwechsel machen, wenn die Briefe nicht lebendig, interessant und informativ wären. Wir wollen den Zuhörerinnen und Zuhörern nicht die Zeit stehlen. Martin: Ja, das ist einfach das Leben zwischen Vater und Sohn. Das betrifft jeden.
Also keine Verklärung?
Hanspeter: Nein, das ist keine Verklärung. Ganz bewusst lassen wir Briefe, worin es etwas knirscht zwischen Vater und Sohn nicht weg. Diese Briefe bringen Pfeffer in die Lesung und wie mein Sohn, gesagt hat, das ist einfach das Leben zwischen Vater und Sohn. Und dass Martin Hesse ein sehr temperamentvoller und eigensinniger junger Mann war, dürfen die Zuhörerinnen und Zuhörer ruhig merken.
Hesse war zeit seines Lebens ein Suchender. Würde er heute leben, wer wäre er dann?
Hanspeter: Er wäre wohl auch heute ein Suchender.
Ein Esoteriker?
Hanspeter: Nein, das wäre er gewiss nicht. Ich kann ihn mir nicht anders vorstellen als einer, der verstanden hat, dass er nicht nach der richtigen Lehre, dem richtigen Guru suchen muss, um im Leben weiterzukommen, sondern den Weg nach innen antreten muss, um sich im Dialog mit sich selbst richtig kennenzulernen und sich weiter zu entwickeln.
Martin: Er war jemand, der alles hinterfragt hat. Er war auch gegen jede Form von Krieg!
Hanspeter: Er wäre auch heute noch ein menschlicher Mensch. Aber es wäre sicherlich nicht einfacher für ihn.
Stefan Fehlmann